Interview mit Sven Heursch
Angesichts wachsender sicherheitspolitischer Herausforderungen in Europa treibt HENSOLDT das Konzept der Software-defined Defence (SDD) als Grundlage für Multidomain-Operationen und digitale Souveränität voran. Wir sprachen mit Sven Heursch, dem neuen Leiter für Software-Defined Defence (SDD) und Digitalisierung bei HENSOLDT, über die Lehren aus dem Ukraine-Krieg, die Rolle des neu entwickelten MDOcore und darüber, wie SDD das Gefüge moderner Verteidigung grundlegend verändert.
Was versteht man unter Software-Defined Defence und warum ist es für moderne Streitkräfte von Bedeutung?
Sven Heursch: Software-defined Defence (SDD) beschreibt den Ansatz, militärische Fähigkeiten primär durch flexible, modulare Software mit offenen Schnittstellen bereitzustellen – statt durch starr ausgelegte Hardware.
Das befähigt Streitkräfte, ihre Systeme auch während laufender Operationen anzupassen – etwa durch das Hinzufügen neuer Funktionen, die Integration zusätzlicher Sensoren oder die Erweiterung KI-gestützter Entscheidungsunterstützung nahezu in Echtzeit.
Gleichzeitig adressiert SDD eine Kernherausforderung der NATO: die Interoperabilität. Offene, softwarebasierte Schnittstellen ermöglichen es, Systeme unterschiedlicher Nationen rasch und pragmatisch zu vernetzen – ohne langwierige Standardisierungsverfahren abwarten zu müssen. Das steigert die operative Beweglichkeit und erhöht zugleich die Wirksamkeit multinationaler Verbände.
Der Ukrainekrieg hat massive Interoperabilitätsprobleme auf dem Gefechtsfeld offengelegt. Wie adressiert SDD diese Herausforderung und welche Rolle spielt HENSOLDTs MDOcore?
Sven Heursch: Die Ukraine ist ein drastisches Beispiel dafür, was geschieht, wenn Streitkräfte unter höchstem Druck unterschiedliche Systeme integrieren müssen. Westliche Artillerie, Flugabwehr und Aufklärungssysteme wurden zwar schnell geliefert – doch bis sie miteinander kommunizieren konnten, vergingen Monate oder gar Jahre. Diese Zeit hatten die Soldaten an der Front nicht.
Unsere Antwort darauf ist die Software-Suite MDOcore – ein neues Integrations- und Koordinierungsframework, das wir bei HENSOLDT derzeit entwickeln. MDO steht für Multi-Domain Operations. Damit betrachten wir nicht nur die taktische Ebene rund um ein einzelnes Waffensystem, sondern das gesamte Gefechtsfeld inklusive smarter Datenübertragung.
MDOcore ist ein verteiltes Datenmanagementsystem für verschiedene Waffensysteme und deren Sensoren. Es ermöglicht, Daten domänenübergreifend auszuwerten, zu transportieren und zusammenzuführen – gestützt auf Cloud-Edge-IT-Infrastrukturen. Durch die intelligente Kombination modernster Verfahren aus Data Science und Künstlicher Intelligenz erfüllt MDOcore alle Anforderungen von SDD.
In umkämpften Einsatzräumen mit Störungen und eingeschränkter Kommunikation fusioniert das System Daten dynamisch, priorisiert Ressourcen und liefert handlungsrelevante Informationen innerhalb weniger Sekunden.
Damit bildet es das Rückgrat für Multi-Domain-Operationen in den Dimensionen Land, Luft, See, Cyber sowie Weltraum und schafft Informationsüberlegenheit als Voraussetzung jeder militärischen Entscheidung. Man kann es sich wie einen „Universalübersetzer“ vorstellen, der dafür sorgt, dass ein deutsches Radar, eine französische Flugabwehrbatterie und ein amerikanisches Führungs- und Waffeneinsatzsystem in Echtzeit ein gemeinsames Lagebild erzeugen. Das Besondere: Ein Soldat kann mit dem MDOcore-gestützten Sensornetzwerk sprechen oder schreiben – und erhält dadurch Informationen, die weit über das reine Lagebild hinausgehen.
Was HENSOLDT unterscheidet: Wir verstehen die Daten an ihrer Quelle – denn wir bauen die Sensoren selbst. Wir integrieren Informationen nicht nur, wir stellen auch deren Qualität, zeitliche Verfügbarkeit und Kontext sicher.
Ein erster Demonstrator von MDOcore mit erweiterter, KI-gestützter Multidomain-Datenfusion wird in den kommenden Monaten verfügbar sein.
"Hardware gewinnt das Gefecht, aber Software wird Kriege entscheiden".
Europäische Führungspersönlichkeiten sprechen zunehmend von digitaler Souveränität. Warum sollten sich Streitkräfte dafür interessieren, wem die Software gehört?
Sven Heursch: Im 21. Jahrhundert definiert sich Souveränität ebenso stark über die Kontrolle von Daten, deren Aggregation mittels KI und Software, wie über den Besitz von Panzern oder Kampfflugzeugen. Wenn einsatzkritische Algorithmen auf unkontrollierten Datenquellen beruhen, Informationen ohne Qualitätsprüfung fusionieren und auf ausländischen Cloud-Edge-Infrastrukturen laufen – mit kompiliertem Code, der sich nicht verändern oder unabhängig verifizieren lässt –, dann gibt man die Basis seiner Entscheidungen aus der Hand. Das öffnet Tür und Tor für Manipulation, ob beabsichtigt oder nicht. Das ist das Gegenteil von Souveränität.
Bei HENSOLDT trainieren wir unsere KI-Modelle z. B. zur Bedrohungserkennung unter europäischen Regularien, gemeinsam mit nationalen Partnern und auf Basis eigener, bewährter Sensordaten. Unsere Kernsoftware entwickeln wir selbst und setzen auf souveräne IT-Umgebungen, um durchgängige Datenhoheit zu gewährleisten. Das gibt Kommandeuren die Sicherheit, dass unsere Systeme genau wie vorgesehen arbeiten – auch in politisch angespannten Lagen.
Digitale Souveränität bedeutet nicht Abschottung. Es geht um Kontrolle – bei voller Interoperabilität mit NATO-Partnern.
Das Tempo technologischer Entwicklungen ist atemberaubend. Wie ermöglicht SDD den Streitkräften, schneller als ihre Gegner zu reagieren?
Sven Heursch: Wir erleben ein „Software-Wettrüsten“. In der Ukraine wie auch anderswo wird jede neue Störtechnik mit einem Software-Patch gekontert, jede neue Drohnentaktik mit neuen Algorithmen beantwortet. Geschwindigkeit der Anpassung ist heute entscheidend.
Traditionell waren Waffensysteme an Modernisierungszyklen von 10 bis 20 Jahren gebunden. Heute ist ein System schon bei der Auslieferung technologisch überholt, weil Innovationszyklen in der IT so rasant sind. Das können wir uns nicht mehr leisten. Mit SDD drehen wir dieses Modell um: Updates können innerhalb von Tagen oder sogar Stunden sicher eingespielt werden.
Ein Beispiel: Unsere Lösung CERETRON, basierend auf MDOcore-Technologien, ermöglicht es, neue Erkennungsalgorithmen direkt auf bereits eingesetzte Gefechtsfahrzeuge oder Kampfpanzer zu übertragen.
Das Ganze wird durch einen agilen Softwareentwicklungsansatz gestützt, auch bekannt als DevSecOps. In enger Abstimmung mit dem Nutzer entwickeln wir kontinuierlich Updates, basierend auf Erfahrungen aus den Einsätzen. Vor der Freigabe werden diese Updates mithilfe digitaler Zwillinge und verteilter Simulationsumgebungen in unseren Battle Labs umfassend getestet.
So stellen wir Agilität sicher, ohne Kompromisse bei Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit. Beides ist im militärischen Umfeld nicht verhandelbar.
"SDD gibt europäischen Streitkräften die Möglichkeit, ihr digitales Schicksal selbst in die Hand zu nehmen."
Sie sprechen von einem Wandel von hardwarebasierten Produkten hin zu Software-Fähigkeiten. Was bedeutet das konkret für Streitkräfte?
Sven Heursch: Die Verteidigung war historisch stark auf Plattformbeschaffung fokussiert. Man erwarb ein Flugzeug, einen Panzer oder ein Kriegsschiff mit integrierten Subsystemen – und hatte damit eine statische Fähigkeit für Jahrzehnte. Doch die heutigen Bedrohungen verändern sich viel zu schnell, als dass dieses Modell noch tragfähig wäre.
Mit SDD gehen wir zu einem fähigkeitsorientierten Ansatz über. Anstatt ein „Radar“ oder ein „Fahrzeug“ zu kaufen, beschafft der Nutzer eine Einsatzfähigkeit – etwa Aufklärung, Luftverteidigung oder Elektronische Kampfführung –, die durch Software kontinuierlich weiterentwickelt werden kann.
Hardware bleibt unverzichtbar, wird aber zum Träger für modulare Softwarepakete, die sich mit der Bedrohungslage weiterentwickeln. Das senkt Kosten und erhöht die Flexibilität. Ein System, das heute eingeführt wird, bleibt auch in zehn oder zwanzig Jahren relevant – weil es sich digital rekonfigurieren lässt.
Bei HENSOLDT entwickeln wir unsere neuen Produkte nach genau diesem Prinzip: modulare Software mit nicht-disruptiver Einspielbarkeit, die es den Streitkräften ermöglicht, sich schnell auf neue Einsatzszenarien einzustellen – ohne auf einen neuen Beschaffungszyklus warten zu müssen. Diese Philosophie liegt auch MDOcore zugrunde.
Immer wieder wird über Künstliche Intelligenz und Autonomie in Waffensystemen diskutiert. Wie stellt HENSOLDTs SDD-Ansatz sicher, dass der Mensch die Kontrolle behält – und trotzdem KI-Fähigkeiten genutzt werden?
Sven Heursch: Wir haben gesehen, wie ukrainische Kräfte KI-gestützte Systeme einsetzen, um riesige Datenmengen auszuwerten, Ziele zu identifizieren, Bedrohungen zu verfolgen und Angriffsprofile vorherzusagen. Solche Fähigkeiten werden künftig entscheidend für die Gefechtsführung sein. Daher müssen sie in unsere Produkte integriert werden. Für uns gilt jedoch: Der Mensch trifft die finale Entscheidung.
KI in der Verteidigung bedeutet für uns, menschliches Urteilsvermögen zu unterstützen, nicht zu ersetzen. Unsere Systeme sind mit „erklärbarer KI“ und intuitiven Bedienoberflächen ausgestattet, sodass der Operator nachvollziehen kann, warum eine Empfehlung abgegeben wurde.
Beispiel: In einer Aufklärungslage könnte KI ein Objekt als Bedrohung klassifizieren. Der Soldat sieht aber stets die Begründung oder die statistische Verlässlichkeit – und bleibt der letzte Entscheider.
Dieses human-zentrierte Design ist auch für das Vertrauen entscheidend. Soldaten müssen sicher sein, dass die Technik sie unterstützt, nicht übergeht. Konkret bedeutet das: KI verantwortungsvoll einbetten, Algorithmen transparent halten und die Besatzungen für die Arbeit in Mensch-Maschine-Teams ausbilden.
Bei HENSOLDT setzen wir diese Prinzipien bereits in unseren Projekten für Überwachungs- und Schutzsysteme um. Es geht nicht um autonome Kriegführung – sondern darum, Soldatinnen und Soldaten bessere Lagebilder und schnellere Entscheidungszyklen zu ermöglichen, bei voller Wahrung ethischer und rechtlicher Standards.
Welche Rolle wird SDD für die europäische Verteidigungsbereitschaft spielen?
Sven Heursch: Europa steht an einem Wendepunkt. Das EU-Weißbuch „Defence Readiness 2030“ ist eindeutig: Wenn wir unsere Fähigkeiten nicht deutlich ausbauen, riskieren wir strategische Bedeutungslosigkeit. Deutschland hat zugesagt, bis 2029 voll einsatzbereit zu sein. Dieses Ziel erreichen wir nicht allein durch Massenproduktion von Panzern oder Munition – entscheidend sind Qualität und Anpassungsfähigkeit gegenüber quantitativer Übermacht.
Genau das ermöglicht SDD: Sensoren und Plattformen zu einem souveränen Gefechts-Cloud-Netzwerk zu verbinden, Interoperabilität über nationale Grenzen hinweg sicherzustellen und Software ins Zentrum der Fähigkeitsentwicklung zu stellen. So vervielfachen wir die Wirksamkeit unserer Streitkräfte.
Kurz gesagt: Hardware gewinnt Gefechte – Software entscheidet Kriege. Mit SDD und MDOcore gibt HENSOLDT Europa die Werkzeuge, souverän, agil und sicher auf die zunehmenden Bedrohungen reagieren zu können.
Über Sven Heursch
Sven Heursch hat am 1. August 2025 die Leitung des Bereichs Software-defined Defence & Digitalisation bei HENSOLDT übernommen. Als Teil des Executive Committee von HENSOLDT ist er dafür verantwortlich, den Übergang des Unternehmens zu skalierbaren, softwarezentrierten Sensorlösungen, KI-gestützter Datenfusion und digitalen Diensten voranzutreiben.
Bevor er zu HENSOLDT kam, diente er 26 Jahre in der deutschen Bundeswehr als Offizier der Luftwaffe und erreichte den Rang eines Oberst i.G. (Oberst, Generalstab). Während seiner Laufbahn war er unter anderem 2009 und 2010 in Afghanistan im Einsatz, wo er aus erster Hand Einblicke in die Realitäten moderner Konflikte erhielt. Später wechselte er in die Beratungsbranche und fügte strategisches Fachwissen über die Umgestaltung großer Organisationen hinzu, wobei sein Schwerpunkt auf der Strategie- und Technologieberatung für die globale Verteidigungsindustrie lag. Dieser doppelte Hintergrund verschafft ihm eine einzigartige Perspektive: die operative Realität der Soldaten an der Front, kombiniert mit dem strategischen Verständnis für die organisatorische Umgestaltung und die technologischen Herausforderungen auf dem Schlachtfeld. Seine Ernennung unterstreicht die zentrale Rolle, die SDD in HENSOLDTs North Star Strategie spielt.
Wie Sven es selbst ausdrückt: "Ich freue mich, meine Erfahrungen bei HENSOLDT, dem Pionier der Software-defined Defence, einbringen zu können. Gemeinsam werden wir die digitale Transformation der Verteidigung gestalten und innovative Lösungen für die Herausforderungen von morgen entwickeln."